Springsteen

Herr Wu ging langsam die Straße entlang und versuchte, die Fugen zwischen den Gehwegplatten nicht zu erwischen. Die Platten waren oftmals gesprungen und asymethrisch verlegt, so dass es stellenweise sehr viel Konzentration verlangte, die selbst gestellte Aufgabe gewissenhaft zu erledigen. 70er dachte Herr Wu, da ist man halt wenig sorgsam mit der Materie umgegangen und bisweilen hat sich die Materie auch aufgelehnt gegen menschliche Überstülpung willentlicher Beanspruchung. Herr Wu dachte auf dem Weg zur Arbeit oft über dergleichen nach. Nicht dass er sich als Philosophen betrachtete oder Architekturkritiker oder sonst irgendeinen intellektuellen Berufsstand, nein, er musste sich Gedanken machen, wollte er um 4 Uhr morgens nicht im Gehen einschlafen.

 

Herr Wu hatte einen kleinen Kiosk – hier von den Einheimischen „Wasserhäuschen“ benamt – in dem er den frühen Berufspendlern den morgendlichen Bedarf an Getränken, Würstchen, Backwaren, Spezereien und Alkoholika darbot, weshalb er etwa eine Stunde vor dem Beginn des Berufsverkehrs in seinem Büdchen sein musste, um Friteuse, Herd und Kühlschrank anzuwerfen. Er war sehr gewissenhaft und darauf bedacht, den Behörden das Bild eines guten und fleißigen Bürgers mit Migrationshintergrund abzugeben, der hart für sein tägliches Brot arbeitete, um nicht dem braven deutschen Steuerzahler zur Last zu fallen. Manchmal, aber wirklich sehr selten, fragte er sich zwar, weshalb die allerbravsten Steuerzahler immer schon um 6 Uhr des morgens seine Bier- und Schnapsvorräte dezimierten, weil das ja doch der täglichen Konzentration zuwiderlief, aber er dachte sich, dass diese groben und ungeschlachten Kerle sicherlich ganz andere körperliche Möglichkeiten hätten, diese Mengen Giftes zu verarbeiten. 

 

Jetzt summte er leise die Melodie von „Down to the river“, während er eleganten Tänzelbewegungen Gestalt verlieh. Springsteen liebte er, seit er erstmals in Amerika gewesen war, einen Vetter des Cousins seines Vaters besuchend. Sein Vater hatte schon Elvis verflucht und ihn als Ausgeburt der weißen Teufel beschrieben. Er, der Vater war ein Verfechter der nationalen Wiedergeburt Chinas durch den Großen Vorsitzenden, mochte die Kuomintang noch so sehr westlicher Lebensart nachhängen, der Vater war und blieb bis zum Tod überzeugter kommunistischer Panchinese. Geholfen hatte es ihm 1966 nicht. Da schlugen sie ihm die Brille aus dem Gesicht und zwangen ihn, den Bürgersteig vom eigenen Blut und Erbrochenen zu reinigen. Herr Wu hatte ihn danach nie wieder gesehen, nur die Rechnung über die Bestattungskosten seines Vaters hatte er als Zeichen seines Lebens und dessen Endes erhalten. Er musste sich kurz schütteln, diesen Geist der Vergangenheit loszuwerden.

 

Herr Wu hatte in Boston Literatur und Philosophie studiert, war zum Postgraduiertenstudium nach Frankfurt gegangen, weil dort der verehrte Professor lehrte und hatte mit überdurchschnittlicher Beurteilung seine Promotion abgeschlossen. Das war heute auf den Tag 35 Jahre her und er dachte gerne an die Zeit zurück, als ihn ein gewisser Hendscheid öfters in seltsame Frankfurter Kneipen mitgenommen hatte und ihm seine Freunde vorstellte, die er ab und an beim durchblättern seltsamer Druckerzeugnisse wieder zu Gesicht bekam. Eine lustige Zeit war das gewesen und er – weiß Gott – kein Kostverächter! Aber jetzt war er 60 und gedachte dieser Possen mit Altersmilde.

 

Er betrat jetzt sein kleines Reich, schloss die Tür sorgfältig hinter sich wieder ab und betätigte den Lichtschalter. Während er dies tat schloss er, wie jeden Morgen, die Augen und genoss das Brummen des Kühlschrankes und das leise elektrische Summen all der ganzen Apparaturen, die er zum Zubereiten des täglichen Bedarfes seiner Kunden benötigte. Hier war der Ort, an dem er stundenlang teilweise öden Betätigungen nachgehen konnte, ohne ihrer müde zu werden, seinen Gedanken nachhängen und dabei die Weißen mit Alkoholika, Würstchen und diesen widerlich süßen Riegeln versorgen, all das machte ihm an diesem Ort der inneren Ruhe nichts mehr aus, war konfuzianische Übung zum inneren Frieden. Er beobachtete gerne seine Kundschaft, wenn er etwa deren Pommes-Frites ins heiße Fett warf – die Gerätschaften waren so angeordnet, dass er stets das kleine Feld vor seinem Ausgabefenster im Blick behielt, ohne dass seine Kundschaft dies ohne größere Anstrengung bemerken konnte. Diese Beobachtungen liebte Herr Wu, sie waren sein Fernsehprogramm, seine kleine Rache für die tagtäglichen Demütigungen – kleine wie große – die man als „Schlitzauge“ oder „Zitronenneger“ in diesem Land der Dichter und Denker erfahren durfte.

 

Die zwei interessantesten Kunden waren dieser Tage zwei Professoren der nahegelegenen Akademie der Künste, wie er aus deren absurd theatralischen Gesprächen über akademische Probleme der Künstler entnommen hatte. Der größere von beiden war ein hagerer, sehr nachlässig gekleideter Mann, etwa Mitte fünfzig, Fusselbart im Gesicht und immer irgendwie geistesabwesend dem kleineren zuhörend. Herr Wu mochte den größeren der beiden und fand, dass dieser aus einem unergründlichen Gefühl heraus nicht zu seinem kleinen Begleiter passte. Der Dünne, wie Herr Wu ihn im Geiste nannte, war so fein, in einer gewissen Art ätherisch und sozusagen konfuzianisch verklärt. Dem kleinen feisten Begleiter des Dünnen hatte er im Moment seines ersten Erscheinens angesehen, dass in diesem ein Dämon wohnte, der ihn quälte und zwang, immer sehr abscheulich und gemein zu anderen Menschen zu sein. Herr Wu kannte solche Menschen, er hatte sie in China kennengelernt, in den Staaten und jetzt auch hier in Deutschland. Sie waren gequälte und gleichzeitig quälende Kreaturen. Der Dämon zwang sie dazu, in der ständigen Erniedrigung anderer und im Verhalten übelster Art und Weise gegenüber den Mitmenschen durch Unhöflichkeit und absolut unschickliches Verhalten eine unbestimmte Befriedigung, die offensichtlich mit Fortdauer ihres Leidens immer kürzer in ihrer Wirkung wurde, zu suchen und schließlich ab einem ganz genau definierbaren Punkt zu finden. Der kleine feiste Mann war etwas eleganter gekleidet als der Dünne, wenn auch auf den zweiten Blick deutlich die mindere Qualität seiner Kleidung offen ins Auge stach. Herr Wu wusste, dass in China jederzeit eine solche Bekleidung in Ordnung gewesen wäre, er wusste aber auch, dass wirklich große Herren anderes trugen. Der Dämon, wie er den kleinen feisten nannte, war immer rasiert, ein Dauerredner und sehr stark gestikulierend erzählender. Manchmal nahm Herr Wu schon aus großer Entfernung einen unangenehmen Geruch, bestehend aus Schweiß und Alkohol war, der immer vom Dämon, niemals vom Dünnen ausging. Überhaupt fütterte der Dämon seine innere Unruhe mit Unmengen Bier und Schnaps, während der Dünne meist eine Tasse schwarzen Kaffee und ein belegtes Brot verzehrte. Oftmals legte Herr Wu aus reiner Zuneigung ein dünnes Scheibchen Tofu in das belegte Brot des Dünnen, um ihm so Kraft und Zuversicht mit auf den Weg zu geben, doch achtete er sehr peinlich darauf, dass der Dünne es niemals merkte. Der Dämon quallte immerzu auf den Dünnen ein, ließ diesen nie zu Wort kommen und bestellte mit abwertenden Worten und Gesten ein Bier nach dem anderen, unterbrochen nur von je einem Jägermeister pro je 2 Bier. Gegessen hatte er noch nie bei ihm! Das einzige, das Herr Wu an diesem Dämon interessant und nicht absolut abstoßend fand war, dass er diese Konsequenz beim Alkoholismus an den Tag legte. Nach jedem zweiten Bier ein Jägermeister – sehr kontrolliert. Herr Wu konnte sehr anerkennend sein, wenn er denn wollte!

 

An diesem Tag nun traten der Dünne und der Dämon wieder in tiefem Disput an seine Theke. Der Dünne orderte Kaffee und ein belegtes Brot, der Dämon Bier. Mit Blick auf Herrn Wu spöttelte der Dämon, er habe kaum einen servileren und hässlicheren Asiaten kennengelernt, als gerade diesen tumben Deppen hinter dem Tresen. Der Dünne lächelte kurz und – dünn – und sagte, dass er dies sehr wenig teilen könne, so als Erfahrung eben. Der Dämon sah dies nun nicht gerade als eine Meinung, die er respektieren könne und hieb derb auf Herrn Wu ein, offensichtlich in der irrigen Annahme, der Chinese verstünde das meiste nicht. Er äußerte sich abfällig über Herrn Wus Aussehen, sein Gesicht, seine ganze körperliche Erscheinung, seine Kleidung; dann wurde über Herrn Wus intellektuelle und schließlich seine sexuellen Fähigkeiten gemutmaßt – alles in allem in einem dreisten und aggressiven Ton, den Herr Wu scheinbar gleichgültig ertrug. 

 

Der Dämon war nun beim sechsten Biere angelangt und merklich unkonzentriert, was mehrere sprachliche Ungenauigkeiten bezeugten. Dem Dünnen war die Situation, die grotesker kaum sein konnte – der Dämon ließ sich gerade sehr ausführlich über die minderen Qualitäten asiatischer Frauen in beischläferischer Hinsicht aus – ganz offensichtlich unangenehm. Er trank schon seinen dritten Kaffee, was Herr Wu besorgt registrierte, da er ihm einen Hang zur Übersäuerung attestierte, während er immer wieder nervös die Schultern zuckte und zu Herrn Wu blickte, als suche er geradezu dessen Augen. Herr Wu lächelte freundlich und ging in die winzige Küche, dem Dämon das georderte Sandwich zu bereiten.

 

Als der Dämon, nun schon sichtlich sturzbetrunken, den Dünnen aufforderte, nun endlich den Arbeitsplatz wieder aufzusuchen und dabei herzhaft in Herrn Wus Sandwich biss, während er leicht taumelnd das Freie betrat, lächelte der Dünne verlegen und reichte Herrn Wu einen 50-Euro-Schein mit den Worten, dies stimme so. Herr Wu ergriff des Dünnen schlaffe Hand, drückte sie kurz und warm, wie er es in seinem Kegelverein gelernt hatte und sagte:“Ich danke Ihnen sehr, werter Herr!“, was den Dünnen noch mehr zusammenfallen ließ, offensichtlich wegen des astreinen Hochdeutsches. 

 

Herr Wu sah den beiden nach, begutachtete den Appetit des Dämon, der mehrfach mit großen Bissen sein mit Mayonaise und Thunfisch belegtes Sandwich dezimierte, und lächelte vergnügt vor sich hin. Dann nahm er sein Mobiltelefon und wählte sehr bedächtig die Nummer seiner Frau, die in der Universitätsbibliothek abeitete. Als er Ihre Stimme vernahm sagte er sehr ruhig, aber mit unglaublich viel Befriedigung in der Stimme: „Mein Stern, Du glaubst nicht, was mir gerade gelungen ist. Ich habe die seit letztem Jahr abgelaufene Mayo, den stinkenden Thunfisch und die fauligen Tomaten vom Wochenende verkauft. ... Nein mein Stern, er wird es erst morgen früh merken. ... Nein, meine Lotusblüte, er wird niemals darauf kommen, woher sein Unwohlsein stammt, dafür trinkt er einfach definitiv zu viel!“ 

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